Toleranz und Gleichheit

"Die Anschuldigung, dass der Islam Minderheiten unterdrückt, hat keine Grundlage im heiligen Buch oder in der Geschichte. Die Geschichte selbst bezeugt, dass es keine Religion gab, die sich davon unterschied, dass Minderheiten zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte und an einem bestimmten Ort der Erde Unheil erlebten. Dies ruft uns alle zur Zusammenarbeit auf und verpflichtet uns, Mitglieder der "Mehrheit" zu sein. Wenn Gerechtigkeit herrscht, ist Gleichheit garantiert und Barmherzigkeit breitet sich aus. Dann wird der Begriff "Mehrheit oder Minderheit" keine Bedeutung mehr haben. Die Gerechtigkeit verlangt, dass der Begriff der Minderheit im Diskurs nicht mehr vorkommt. Vielmehr sollte sich jeder Diskurs ausschließlich auf eine vereinigte Nation erstrecken".

Kontext: 
 

Mehr als ein Jahrzehnt nach Beginn des globalen „Krieges gegen den Terror“ im Jahr 2001 entstand durch die zunehmende Instabilität im Nahen Osten der Islamische Staat im Irak und in Syrien (ISIS). Diese Gruppe kontrollierte zwischen 2014 und 2017 große Gebiete dieser beiden Nachbarländer. Unter dem Banner dieser Gruppe wurden in dieser Region und in ganz Europa zahlreiche Verbrechen begangen. Religiöse Minderheiten, die seit Jahrtausenden im Irak und in Syrien lebten, wurden schwer verfolgt.

 

Die Konferenz zur Erklärung von Marrakesch über die Rechte religiöser Minderheiten in mehrheitlich muslimischen Gemeinschaften fand 2016 unter der Schirmherrschaft des Königs von Marokko statt. Diese Konferenz versuchte, religiöse und rechtliche Lösungen anzubieten, um extreme Diskurse zu beenden. Im Mittelpunkt stand die Verfassung von Medina, deren positive Merkmale hervorgehoben wurden und deren 1400-jähriges Bestehen gefeiert wurde (siehe Ausschnitt „Medina Context“). Es nahmen zahlreiche muslimische Gelehrte aus über 120 Ländern sowie führende Vertreter nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften teil. Für diese muslimischen Gelehrten enthält die Verfassung von Medina die Idee von Gleichheit und Gerechtigkeit sowie andere ethische Werte. Ihrer Meinung nach könnte sie moderne Verfassungen in Ländern mit muslimischer Mehrheit inspirieren. Dieser Ausschnitt ist Teil der Schlussfolgerungen des Rechtsrahmens und des Aufrufs zum Handeln der Marrakesch-Erklärung. Er drückt die Notwendigkeit aus, über die Etikettierung von „Minderheit-Mehrheit“ hinauszugehen, um bürgerliche Gleichheit und Gerechtigkeit zu erlangen.

Obwohl die aktuelle religiöse Vielfalt in der Erklärung von Marrakesch anerkannt wird, ist es eine Tatsache, dass die islamischen Mehrheitsstaaten die Kultur der Mehrheit übernehmen. Wie kann ein Staat integrativer sein, wenn seine sozialen und rechtlichen Normen in die Mehrheitskultur eingebettet sind? Diese Herausforderung betrifft nicht nur islamische Mehrheitsländer, sondern auch viele Nationen auf der Welt, in denen Pluralität nicht vollständig in der Identität des Staates vertreten ist.