Religionsfreiheit oder Freiheit zur Diskriminierung?
Nach den napoleonischen Kriegen wechselten viele Gebiete die Herrschaft. Manchmal bedeutete dies, dass Menschen plötzlich von Herrschern mit einer anderen Religion regiert wurden. Zum Beispiel gab der katholische König von Piemont einige Ländereien an die protestantischen Genfer. In diesen Ländern gab es eine katholische Mehrheit und eine protestantische Minderheit. Unter seiner Regentschaft hatte der König die Diskriminierung der Protestanten durch die Katholiken zugelassen. Aber die Genfer waren Protestanten, so dass er nun befürchtete, dass sie der protestantischen Minderheit in den von ihm abgetretenen Gebieten helfen würden. Vielleicht würden die Genfer die Situation sogar umkehren, indem sie den Protestanten mehr Macht geben könnten als den Katholiken. Der König verlangte daher, dass die Genfer "die freie Ausübung der katholischen Religion" respektieren sollten. Er bat die Genfer auch darum, die Katholiken wie normale Bürger zu behandeln. In den Augen des Königs bedeutete diese "Normalität" jedoch, dass die Katholiken die gleichen Rechte haben würden, als ob sie noch von einem Katholiken regiert würden. Was der König also tatsächlich verlangte, war, dass die Genfer den Katholiken erlauben würden, weiterhin die Protestanten zu diskriminieren, so wie sie es zuvor getan hatten.
Kontext:
Der Wiener Kongress, der von November 1814 bis Juni 1815 stattfand, war ein entscheidendes diplomatisches Treffen, das darauf abzielte, das postnapoleonische Europa zu gestalten. Obwohl Napoleon während der Verhandlungen eine drohende Gefahr blieb, kamen die europäischen Staats- und Regierungschefs und ihre Botschafter in Wien zusammen, um über die Zukunft des Kontinents nach dem vollständigen Ende seiner Herrschaft zu entscheiden.
Eine der Hauptaufgaben des Kongresses bestand darin, die Landkarte Europas neu zu zeichnen. Napoleons Eroberungen hatten die territorialen Grenzen und Regierungssysteme drastisch verändert, sodass es unmöglich war, einfach den Status quo vor 1790 wiederherzustellen. Infolgedessen teilten Diplomaten große Landstriche zwischen Nationen neu auf, schlossen Gebiete zusammen und teilten sie auf und gründeten sogar völlig neue Länder.
Ein weiteres wichtiges Thema, das während des Kongresses oder in der Folgezeit behandelt wurde, war die Ausarbeitung von Verfassungen für die neu konfigurierten Staaten. Unter Napoleon hatten viele Regionen tiefgreifende Veränderungen erfahren, die klare Regeln für die Regierungsführung erforderlich machten. Diese Verfassungen befassten sich oft auch mit religiösen Unterschieden, was in Wien zu heftigen Diskussionen über die Gewährung gleicher Rechte für religiöse Minderheiten, insbesondere Juden, führte. Napoleon hatte zuvor während seiner Herrschaft den Juden mehr Rechte eingeräumt, was diese Debatten noch dringlicher und komplexer machte.
Der Kongress führte auch zur Bildung der Heiligen Allianz, einem Pakt zwischen Russland, Österreich und Preußen. Diese Allianz zielte darauf ab, das Christentum zu bewahren und das göttliche Recht der Monarchien gegen liberale und säkulare Bewegungen zu verteidigen. Während das Christentum im Mittelpunkt der Allianz stand, unterschieden sich die Glaubensrichtungen der Herrscher – orthodoxes Christentum für den russischen Zaren, Katholizismus für den österreichischen Kaiser und Protestantismus für den preußischen König – was das gemeinsame Engagement für die Wahrung der monarchischen Autorität trotz religiöser Unterschiede unterstrich.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Wiener Kongress den Grundstein für ein neu strukturiertes Europa legte, indem er territoriale, verfassungsrechtliche und religiöse Fragen behandelte und gleichzeitig Bündnisse förderte, die in den kommenden Jahrzehnten ein Gegengewicht zu den revolutionären Kräften bilden sollten.
Kann Toleranz auch Intoleranz zulassen? Haben Staatsoberhäupter wie der König von Piemont wirklich die Autorität, von anderen Regierungen Toleranz zu verlangen?
Weitere Informationen zu diesem und anderen Friedensverträgen finden Sie unter: Henning P. Jürgens, Patrick Pasture, Bram De Ridder, Christophe Schellekens, Naum Trajanovski. Reports on historical peace treaties and agreements. Retopea Deliverable 2.3. (November 2022).